Von Kassel in die Welt

Wie aus einer Kasseler Schülerband das globale Pop-Phänomen Milky Chance wurde

Ausgerechnet in der Heimatstadt der Brüder Grimm wurde eines der schönsten Pop-Märchen geschrieben. 2013 wurden die Abiturienten der Jacob-Grimm-Schule Clemens Rehbein und Philipp Dausch mit ihrem Hit “Stolen Dance” weltweit berühmt. Nach vier Jahren meldet sich das Kasseler Duo mit seinem zweiten Album “Blossom” zurück. Hier erzählen wir die Geschichte der beiden Musiker, die passenderweise schon auf ihrem ersten Album ein Stück hatten, das “Fairytale” hieß. Ihr Märchen geht mit ziemlicher Sicherheit weiter. Doch beginnen wir von vorn: Es war einmal...

Vor fast sieben Jahren schrieben wir das erste Mal über Clemens Rehbein und Philipp Dausch. Die beiden waren Mitglieder der Schülerband Flown Tones an der Kasseler Jacob-Grimm-Schule. Offiziell hatten sich die fünf Mitglieder zwar dem Jazz verschrieben, modernisierten die alten Stücke jedoch mit tanzbaren Grooves und Hip-Hop-Beats. Und das kam gut an: Anfang 2010 reisten die Schüler nach Stuttgart, wo sie in drei Tagen als Straßenmusiker gut 200 Euro einnahmen.

Der erste Auftritt folgte nur einen Tag nach unserem Bericht, am 4. Juli 2010. Sie spielten in der Reihe Bergpark-Konzerte in der Konzertmuschel neben dem Schloss Wilhelmshöhe. Die Teenager wurden laut unserem Konzertbericht zum “jugendlichen Entstaubungskommando” des Jazz und Soul. Unter den 200 Zuhörern war auch der Kasseler Oberbürgermeister Bertram Hilgen.

“Wir haben Jazz-Standards gespielt und haben Pop-Songs gecovert und daraus Swing gemacht”, sagen Rehbein und Dausch Jahre später. Es sei ungewöhnlich für Schüler in ihrem Alter, Ray Charles zu spielen, so Rehbein.

In den Folgejahren traten die fünf Schüler zwar regelmäßig auf, es wurde jedoch ruhiger um die Flown Tones.

2012 machten Rehbein und Dausch ihr Abitur an der Jacob-Grimm-Schule. Erst wollte Rehbein Musik studieren, aber schon auf dem Gymnasium sei er kein guter Schüler gewesen. Darum machte er halt so Karriere - und die begann am 14. Juli 2012. Rehbein lud, nun unter dem Namen Milky Chance, den ersten Song “Sweet Sun” auf seinen YouTube-Kanal hoch. Doch erst mit seinem dritten Video zwei Monate später, der Single “Stolen Dance”, startete er so richtig durch.

In wenigen Monaten sammelte Rehbein mehrere hunderttausend Klicks. Bis heute wurde allein das Video zu “Stolen Dance” über zehn Millionen mal angehört, eine neue Album-Version des Liedes kommt mittlerweile sogar auf über 300 Millionen Klicks. Rehbeins Erfolgsrezept: Sein elektronisch angehauchter Singer/Songwriter-Pop klingt, als käme Rehbein aus London oder von der US-Westküste. “In ,Stolen Dance’ legt sich seine markant-herbe Stimme über Samples und lässige Beats. Milky Chance vereint das sonnige Gemüt des Reggae mit der Coolness eines Club-Acts”, schrieben wir damals.

Für sein Ziel, als Musiker erfolgreich zu sein, erhielt Rehbein viel Unterstützung. Seine Eltern wurden mit jedem weiteren YouTube-Klick überzeugter, dass ihr Sohn auf dem richtigen Weg war. Auch der Kasseler Musiker Jürgen Müller (Herr Müller und seine Gitarre), bei dem Rehbein den ersten Unterricht hatte, fand es „richtig geil“, was sein ehemaliger Schützling machte: „Er hat den Mut, das zu verfolgen, was ihm Spaß macht”, sagte er im April 2013 im Interview.

Spaß an der Musik hatte auch Philipp Dausch, der die eingängigen Beats bastelte. Er machte im Frühjahr 2013 aus dem Soloprojekt ein Pop-Duo. Live sind Milky Chance mittlerweile zum Quartett geworden. Schon seit Längerem unterstützt Gitarrist Antonio Greger seine beiden Freunde. „Ich bin keine Rampensau. Mir reicht es, wenn ich spiele“, sagt der Blondschopf, der Rehbein und Dausch noch von der Kasseler Jacob-Grimm-Schule kennt, wo er einen Jahrgang über ihnen war. Im vergangenen Sommer haben wir den 25-Jährigen porträtiert. Zudem steht nun auch der Schlagzeuger Sebastian Schmidt mit auf der Bühne.

Das Team hinter Milky Chance war schon zu Beginn wie eine große Familie: Nachdem Dausch mit zwei Freunden die Plattenfirma Lichtdicht gegründet hatte, erschien dort im Mai 2013 das Debütalbum „Sadnecessary“. Auch das wurde zum Hit, als die 14 Songs im Oktober 2013 zuerst als Download und dann nochmals als Tonträger veröffentlicht wurden. Milky Chance lehnten alle Anfragen von großen Plattenfirmen ab und arbeiteten nur mit den Vertriebspartnern Pias und Rough Trade zusammen. Dort war man sich schon vor vier Jahren sicher, dass „Sadnecessary” auch europaweit ein Hit werden könnte - mit Recht.

Am 1. November 2013 stieg “Sadnecessary” auf Platz 14 der deutschen Album-Charts ein und zählte 34 Wochen zu den 100 meistverkauften Alben des Landes.

Für “Stolen Dance” gab es sogar Platz zwei in den Charts, wo sich der Song ganze 60 Wochen hielt. Goldene Schallplatte für das Album und Platin für den Hit “Stolen Dance” folgten bald darauf.

Nach Nummer-eins-Platzierungen in Österreich und der Schweiz wurde auch der englischsprachige Markt auf das Kasseler Duo aufmerksam - spätestens mit der zweiten Single “Down By The River” im Frühjahr 2014. Milky Chance spielten sogar schon Konzerte in den USA, bevor ihr Album dort überhaupt erschien. Den jungen Deutschen kam dabei zugute, dass ihre Songs komplett englischsprachig sind. “Deutsch zu schreiben ist unmöglich, weil es eine sehr hart klingende Sprache ist”, sagte Rehbein. “Es ist schwierig für mich, damit auszudrücken, was ich will.”

Was die Fans in den USA wollten, wurde spätestens am 1. November 2014 klar: Sie wollten “Sadnecessary”. Das Album stieg auf Platz 17 der Billboard-Charts ein und stand damit vor Künstlern wie Ed Sheeran und Ariana Grande. Zu diesem Zeitpunkt waren Milky Chance und ihr Gitarrist Antonio Greger längst keine Unbekannten mehr. Sie waren kurz zuvor in den einigen der größten Late-Night-Shows der USA aufgetreten, darunter als erste deutsche Band bei Jimmy Fallon. Anschließend eroberten Milky Chance auch noch Australien, Neuseeland und Südafrika. Wie erfolgreich die Nordhessen nicht nur in Deutschland sind, zeigen auch Daten des Streaminganbieters Spotify. Dort zählt “Stolen Dance” zu den nur 330 Liedern, die mehr als 200 Millionen Mal angehört wurden. Milky Chance stehen mit über sechs Millionen monatlichen Hörern außerdem auf Platz 244 der meistgehörten Künstler der Welt. Die meisten davon kommen aus einer Stadt, mit der wohl niemand gerechnet hätte: Mexico City. 131.902 monatliche Milky-Chance-Hörer weist Spotify aus. Auf den Plätzen folgen die drei australischen Metropolen Melbourne, Brisbane und Sydney sowie Berlin.

Unsere Karte macht deutlich, wie international Milky Chance mittlerweile sind. Nach ersten Konzerten in Deutschland spielen sie nun in der ganzen Welt - von Perth bis Moskau. Bei allem Erfolg sind Rehbein und Dausch jedoch auf dem Boden geblieben. Beide wohnen nach wie vor in Kassel, wo Rehbein mittlerweile eine eigene Familie hat. Er ist Vater einer Tochter. Dausch kickte vorige Saison noch für die Fußball-Reserve des SV Harleshausen in der Kreisliga B.

Bei wichtigen Dingen vertrauen Milky Chance auf alte Bekannte aus der Heimat - nicht nur beim Label oder der Live-Unterstützung durch Greger und Schmidt. Fotografieren lassen sie sich am liebsten von Faye Kristin. Die aus Dainrode bei Frankenberg stammende Künstlerin, die mittlerweile in Berlin lebt, schoss schon die Fotos für “Sadnecessary”. Rehbein und Dausch waren sich auch nicht zu schade, für Faye Kristins Abschlussarbeit an der Kasseler Kunsthochschule Model zu stehen. So entstand vor zwei Jahren der Fotoroman “Âventiure” mit den schon damals weltbekannten Musikern in den Hauptrollen.

Den 17. März 2017 haben Milky-Chance-Fans schon länger rot im Kalender angestrichen. An diesem Freitag erscheint weltweit das zweite Album “Blossom”. Geschrieben haben Rehbein und Dausch die 14 Songs in Kassel, aufgenommen haben sie das Material in den Toolhouse-Studios in Rotenburg. Das ist ungewöhnlich für eine Band, die global gefeiert wird. Aber es passt eben auch zu Milky Chance, die zwischen ihren weltweiten Tourneen und Auftritten in US-Late-Night-Shows immer wieder nach Kassel kommen. Die Single “Cocoon” handelt von einem Ort, an den man sich immer wieder zurückziehen kann und ist dadurch auch eine Hymne auf Kassel, sagte Rehbein in unserem Interview zum neuen Album.

Eine wichtige Änderung beim neuen Album: Das Plattenlabel Lichtdicht ihrer alten Kumpels ist Geschichte. “Im Endeffekt gab es Meinungsverschiedenheiten. Es hat nicht mehr geflutscht. Wir haben uns nicht mehr so gut verstanden. Darum war es das Sinnvollste, das zu beenden”, sagt Rehbein über das Aus. Ihre größeren Möglichkeiten hört man dem zweiten Album auch an. Waren die Samples der ersten Songs noch in Kinderzimmern entstanden, klingt “Blossom” nun mehr nach Musikern als nach DJs. “Dass wir auf ,Sadnecessary’ viele Samples verwendet haben, war auch den Möglichkeiten geschuldet. Wir hatten eine Gitarre und den PC. Darum haben wir das damals eben so gemacht. Aber groß geworden sind wir mit Musik, die man mit echten Instrumenten macht. Das macht uns immer noch am meisten Spaß”, sagt Rehbein.

Milky Chance haben ihre Wurzeln nicht vergessen. Weder, wo sie herkommen, noch, mit welcher Musik sie aufgewachsen sind. Und doch ist ein Detail symptomatisch für ihren Status als internationale Weltstars. Die Veröffentlichung ihres zweiten Albums erleben sie nicht in Kassel, sondern in New York.

Von Kassel in die Welt
  1. Section 4
  2. Die Anfänge
  3. Debütalbum und Erfolg in Deutschland
  4. Weltweiter Ruhm und Heimatliebe
  5. Neues Album "Blossom"