Tierarzt-Nachwuchs: Niemand will aufs Land
Praxen im ländlichen Raum suchen händeringend Nachfolger
Es scheint ein Traumjob zu sein: Tieren helfen und eine eigene Praxis führen. Mit genau dieser Vorstellung beginnen Tausende Schulabgänger jedes Jahr ein Veterinärstudium. Die Realität sieht allerdings anders aus. Gerade in ländlichen Regionen, wo hauptsächlich Großtiere wie Rinder, Schafe, Schweine und Pferde einen Tierarzt brauchen, fehlt es an Tierarzt-Nachwuchs.
Katja Sandlöhken ist seit 20 Jahren Tierärztin im Kreis Waldeck-Frankenberg. Mit Kleintieren hat sie in ihrem Berufsalltag wenig zu tun, sie kümmert sich um große Patienten. Behandlungsräume im klassischen Sinne gibt es nicht - sie arbeitet auf Weiden oder in Ställen. Bei aller Planung - viele Patienten sind Notfälle und müssen sofort behandelt werden. Auch in diesem Fall kommt der Anruf zwischendurch rein: Ein Pferd hat große Schmerzen. Es kann seit einigen Stunden nicht mehr aufstehen, der komplette hintere Teil des Körpers ist gelähmt.
Die Besitzerin hat Sandlöhken angerufen. Jetzt geht es um Minuten. Der Boden ist kalt, das Pferd schon völlig erschöpft. Je länger der 20 Jahre alte Wallach fest liegt, desto schlechter sind seine Überlebenschancen. Sandlöhken versucht deshalb, ihm mit Infusionen und Schmerzmitteln wieder auf die Beine zu helfen – vergebens. Der Zustand des Tieres wird immer schlechter. Sandlöhken entscheidet sich schweren Herzens für eine Einschläferung.
Die Erlösung von Tieren gehört zum Alltag. „Routine wird das nie. Aber man muss den Abstand zu solchen Ereignissen wahren, sonst geht man daran kaputt“, sagt Sandlöhken. Seit 20 Jahren ist sie bereits Tierärztin, davon arbeitet sie sieben als Angestellte in der Praxis für Groß- und Kleintiere von Almut Vockert in Edertal. Dort ist sie zuständig für die Großtiere in der Region. An vier Tagen in der Woche fährt sie landwirtschaftliche Betriebe und Privathalter in der Region mit dem Auto ab. Von der Praxis bekommt sie eine Liste mit den jeweiligen Patienten. „Jeder, der Hilfe braucht, kommt dran.”
Der Nachwuchsmangel macht sich auch bei Almut Vockert und ihren Kollegen bemerkbar: Lange Arbeitszeiten, viel Verantwortung und ein hohes Pensum von Einsätzen kosten Kraft. Viele Studenten der Veterinärmedizin können sich eine spätere Tätigkeit im ländlichen Raum nicht vorstellen, bleiben deshalb den Praxen fern. Um trotzdem genügend Mitarbeiter für ihre Praxis zu finden, musste sich Almut Vockert etwas einfallen lassen. „Ich biete meinen Angestellten flexible Arbeitszeiten und eine Wohnung. Trotzdem wollen gerade die jungen Tiermediziner nicht aufs Land. Die meisten Absolventen bleiben lieber im nahen Umkreis um die Universitätsstädte wohnen“, sagt Vockert. Besonders die Spezialisierung auf Großtiere sei eher unbeliebt. Ein großes Problem seien auch die Erwartungen an die berufliche Praxis, häufig geprägt durch Fernsehserien.
In kaum einem Beruf klafften Vorstellung und Realität weiter auseinander. „In meinem Job hat man viel mit Blut und Dreck zu tun. Daran ist nichts romantisch“, stellt Sandlöhken klar. Leider merkten das junge Tierärzte erst, wenn sie die Universitäten verließen und erste Praxiserfahrungen machten. Zurzeit beschäftigt Vockert sechs Tierärztinnen in ihrer Praxis, von denen aber viele wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft eine Zeit lang ausfallen. Bis sie überhaupt Mitarbeiter gefunden hatte, verging allerdings einige Zeit. „Wir haben im letzten Jahr drei Versuche gestartet, um neue Tierärzte anzuwerben, leider ohne Erfolg“, sagt Vockert. Sie hat die Praxis von ihrem Vater übernommen und behandelt neben Kleintieren auch Großtiere wie Pferde, Rinder, Schweine und Schafe.
Der nächste Einsatz, der nächste Stall: Eine Milchkuh hat vor Kurzem gekalbt. Jetzt soll Sandlöhken die Nachbehandlung übernehmen. Auf den ersten Blick ist für die Tierärztin zu erkennen: Die Nachgeburt ist nicht abgegangen. Um eine Entzündung zu verhindern, muss das verbliebene Gewebe mit der Hand entfernt werden – ein Knochenjob. „Man weiß nie, was einen bei den Einsätzen erwartet. Aber das Wohl des Tieres steht immer im Vordergrund.“ Für die tierischen Patienten gibt es einen Notdienst rund um die Uhr. Kurz vor Feierabend – es ist ungefähr 20 Uhr – wird Sandlöhken telefonisch noch ein Notfall gemeldet: Ein Mutterschaf hat ein entzündetes Euter, das Lamm bekommt nicht genügend Milch. Mit Medikamenten versucht Sandlöhken, die Entzündung in den Griff zu bekommen. Ob das Schaf durchkommt, ist noch ungewiss.
Nicht nur lange Arbeitstage und Bereitschaftsdienste schrecken ab - die Universitäten bereiten ihre Studenten oftmals nicht ausreichend auf den Berufsalltag vor. Diese Erfahrung hat Sandlöhken gemacht: „Wir bräuchten mehr Absolventen, die nicht nur theoretisches Wissen haben, sondern vor allem Sachverstand und auch zupacken können.“
Dr. Philipp Matthes, der in Bad Wildungen eine eigene Praxis betreibt, gibt den Unis eine Mitschuld an der schlechten Vorbereitung auf den Job.
An den Hochschulen muss sich einiges ändern, damit die Studenten den notwendigen praktischen Bezug so früh wie möglich bekommen und nicht völlig unvorbereitet in den Job starten. Der Studiengang muss immer weiter entwickelt werden und sich stärker an der beruflichen Realität orientieren.
Hund, Katze und Meerschweinchen werden in den meisten Fällen geliebt und innnig umsorgt. Bei den sogenannten Nutztieren sieht es schon wieder anders aus. Wo die Masse im Vordergrund steht, gerät das einzelne Tier aus dem Blick. Damit ändert sich auch das gesamte Berufsfeld sagt Dr. Philipp Matthes.
Für angehende Tierärzte heißt das unterm Strich: Umdenken. Die Landwirtschaft wird sich auch weiterhin verändern. Kleine Höfe in Familienhand sterben aus, an ihre Stelle rücken große Betriebe. Die Industrialisierung macht auch vor dem Tier nicht Halt - im Gegenteil. Wer als Tierarzt in dieser Welt bestehen will, muss Biss haben und sich am Besten auf ein Gebiet spezialisieren. Die Tiere werden auch weiterhin kompetente Ärzte brauchen.